Der Mathematische Monatskalender: Guillaume de l'Hôpital (1661–1704)
Ein wichtiger Satz der Differenzialrechnung ist unter der Bezeichnung L'Hôpital'sche Regel in die mathematische Literatur eingegangen. Benannt ist sie nach Guillaume Francois Antoine de L'Hôpital, Marquis de Saintemesme, Comte d'Entremont, Seigneur d'Oucques, La Chaise, Le Breau et autres lieuxments, der – wie man dem Adelstitel entnehmen kann – einem der einflussreichsten französischen Adelshäuser entstammte.
Die Regel besagt im Wesentlichen, dass man für differenzierbare Funktionen \(f\) und \(g\), die beide an einer Stelle \(a\) eine Nullstelle besitzen, den Grenzwert der Quotientenfunktion \(f/g\) mithilfe des Funktionswerts von \(f'/g'\) in \(a\) bestimmen kann, sofern dieser existiert, genauer:
Falls \(\ f(a)=g(a)=0\ \) und \(\ \lim_{x\to a}\frac{f'(x)}{g'(x)}\ \) existiert, dann gilt \(\ \lim_{x\to a}\frac{f(x)}{g(x)}=\lim_{x\to a}\frac{f'(x)}{g'(x)}\).
L'Hôpital veröffentlichte diesen Satz im Jahre 1696 in seinem Buch Analyse des infiniment petits pour l'intelligence des lignes courbes (Infinitesimalrechnung mit Anwendung auf gekrümmte Linien), dem ersten Buch zur Leibniz’schen Differenzialrechnung. Aber ob diese Regel tatsächlich von L'Hôpital entdeckt wurde, ist umstritten und wird sich kaum noch klären lassen.
Bereits als Kind interessiert sich L'Hôpital sehr für mathematische Probleme. Als 15-Jähriger soll er sogar schon ein schwieriges Problem über die Zykloide (Rollkurve eines Punktes auf der Kreislinie) gelöst haben, das Blaise Pascal gestellt hatte.
Gemäß der Familientradition tritt er in den Militärdienst ein, führt als Hauptmann ein Kavallerieregiment – sein Interesse gilt aber eher der Geometrie. Wegen extremer Kurzsichtigkeit muss er bald seine militärische Laufbahn beenden. Von da an besucht er regelmäßig den philosophisch-mathematischen Gesprächskreis des Mathematik-Professors Nicolas Malebranche aus dem Orden der Oratorianer. Als 1691 der 24-jährige Johann Bernoulli nach Paris kommt, hat L'Hôpital endlich die Person gefunden, die sich mit der neuen Infinitesimalrechnung auskennt.
Johann Bernoulli hatte sich eigentlich bereits für ein Medizinstudium an der Universität Basel entschieden, als er durch seinen 12 Jahre älteren Bruder Jakob auf die Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz zur Analysis aufmerksam wird. Zunächst unter Anleitung des Bruders, dann aber zunehmend selbstständig, arbeitet er sich in die neuen Methoden ein und entwickelt sich zum Konkurrenten seines Bruders. 1691 hält er in Genf Vorlesungen und reist dann weiter nach Paris.
Johann Bernoulli erklärt sich bereit, vor den Mitgliedern des Malebranche-Kreises wöchentlich vier Vorlesungen zur Infinitesimalrechnung zu halten. Danach setzt er dies gegen eine Bezahlung im Landhaus L'Hôpitals in Oucques (Loire) fort. Nach seiner Rückkehr nach Basel sendet er regelmäßig weitere "Lektionen" in Form von Briefen zu.
1639 hatte der Hobby-Mathematiker Florimond de Beaune an Descartes die Frage gestellt, bei welchen Kurven die Subtangenten (Projektionen der Tangenten auf die Abszisse) konstant sind, aber weder Descartes noch Fermat konnten diese Frage beantworten. 1692 teilt L'Hôpital in einem Brief an Huygens diesem die Lösung des Problems mit (die Eigenschaft trifft für alle Exponentialfunktionen zu), ohne ausdrücklich anzugeben, dass sie nicht von ihm, sondern von Johann Bernoulli stammt. Außerdem veröffentlicht er die Lösung unter einem Pseudonym.
Johann Bernoulli ist hierüber erbost und bricht seine Kontakte zu L'Hôpital ab, bis dieser ihm ein äußerst großzügiges finanzielles Angebot macht: Johann Bernoulli solle ihn auch zukünftig gegen die Bezahlung eines halben Professorengehalts regelmäßig über neue mathematische Erkenntnisse informieren, allerdings sich auch dazu verpflichten, diese neuen Einsichten nicht anderen mitzuteilen (L'Hôpital nennt hierbei ausdrücklich den Mathematiker Pierre de Varignon, mit dem Johann Bernoulli befreundet ist) oder diese gar zu veröffentlichen. Johann Bernoulli nimmt das Angebot an, ist aber dennoch enttäuscht, als er 1696 im Vorwort des Buches Analyse des infiniment petits liest: Schließlich bin ich den Herren Bernoulli wegen ihrer großartigen Einsichten zu Dank verpflichtet, insbesondere dem jüngeren Herrn Bernoulli, der jetzt Professor in Groningen ist. Ich habe mich ungezwungen ihrer Entdeckungen bedient, ebenso wie derer des Herrn Leibniz. Daher bin ich mit allem einverstanden, was sie als ihre Idee beanspruchen mögen, und bin zufrieden mit dem, was sie mir lassen.
Johann Bernoulli hält sich an die mit L'Hôpital getroffene Vereinbarung, seinen Anteil am Buch zu verschweigen; aber nach dessen Tod verbreitet er zunehmend, dass er der eigentliche Autor dieses außerordentlich erfolgreichen Buches sei. Da er über Jahre hinweg immer wieder verschiedene Prioritätsansprüche geltend gemacht hatte (insbesondere gegenüber seinem älteren Bruder Jakob), wird dies lange Zeit nicht für glaubwürdig gehalten. Erst als man 1921 Mitschriften der Vorlesungen Johann Bernoullis findet, zeigen sich große Übereinstimmungen mit den Ausführungen im Buch. Andererseits sind in den Vorlesungsskripten etliche Fehler enthalten, die L'Hôpital offensichtlich erkannt und vor der Veröffentlichung korrigiert hatte.
Auch wenn heute nicht mehr eindeutig geklärt werden kann, welchen Anteil L'Hôpital selbst am Buch Analyse des infiniment petits pour l'intelligence des lignes courbes hat, dürfen seine Verdienste nicht geschmälert werden. Zweifelsohne haben die Klarheit des Aufbaus und die Verständlichkeit der Formulierungen dazu beigetragen, dass die Leibniz'sche Theorie der Infinitesimalrechnung erfolgreich verbreitet wurde.
Das Buch beginnt mit zwei Definitionen und einem ersten Korollar: Variable Größen sind solche, die kontinuierlich größer oder kleiner werden, im Gegensatz zu konstanten Größen, die unverändert bleiben, während die anderen sich verändern. Der infinitesimale Teil, um den eine variable Größe größer oder kleiner wird, heißt Differenzial der Größe. Es ist offensichtlich, dass konstante Größen das Differenzial null haben.
Dann folgen zwei Axiome: Unterscheiden sich zwei variable Größen nur um einen infinitesimalen Betrag, dann sollen sie als gleich angesehen werden. Eine gekrümmte Linie (Kurve) soll als Vereinigung von unendlich vielen, infinitesimal kleinen Geraden angesehen werden, oder was dasselbe ist: als ein Polygon mit unendlich vielen Seiten von jeweils infinitesimal kleiner Länge. Der Winkel zwischen zwei aufeinander folgenden Seiten bestimmt die Krümmung der Kurve.
Dann folgen noch die Ableitungsregeln (für Potenzen, auch mit gebrochenen Exponenten, für Summen und Differenzen, Produkte, Quotienten und verkettete Funktionen).
Im 2. Kapitel wird erläutert, wie man eine Tangente an eine Kurve bestimmen kann (nämlich als diejenige Seite des oben angegebenen Polygons, die am betrachteten Punkt liegt). Die Bestimmung von Maxima und Minima schließt sich im 3. Kapitel an. Das 4. Kapitel beginnt mit der Einführung der 2. Ableitung und beschäftigt sich mit Wendepunkten und Spitzen (singuläre Punkte). In den folgenden vier Kapiteln werden – unterstützt durch zahlreiche Abbildungen – Krümmung und Krümmungskreis, Evoluten (= Bahn des Mittelpunkts des Krümmungskreises), Hüllkurven und Ähnliches untersucht.
Schließlich folgt im letzten Kapitel unter dem schlichten Titel Lösung einiger Probleme, die von den zuvor behandelten Methoden abhängen, unter anderem die Regel, die heute den Namen L'Hôpitals trägt. Er erläutert sie anhand zweier Beispiele: Bei der Funktionenschar mit \(\ f_a(x) =\frac{\sqrt{2a^3x-x^4}-a\cdot\sqrt[3]{a^2 x}}{a-\sqrt[4]{ax^3}}\ \) nehmen Zähler- und Nennerfunktion \(z\) und \(n\) für \(x=a\) den Wert 0 an. Für die Ableitungen ergibt sich \(\ z'(x) =\frac{a^3-2x^3}{\sqrt{2a^3x-x^4}}-\frac{a^3}{3\cdot \sqrt[3]{ax^2}}\ \) mit \(\ z'(a)=-\frac{4}{3}a\ \) und \(\ n'(x)=-\frac{3a}{4\cdot \sqrt[4]{a^3 x}}\ \) mit \(\ n'(a)=-\frac{3}{4}\ \) und hieraus \(\ \lim_{x\to a} f_a(x)=\frac{16}{9}a\).
Analog zeigt er, dass die Definitionslücke der Funktionenschar mit \(\ y=\frac{a^2-ax}{a-\sqrt{ax}\ }\) an der Stelle \(\ x=a\ \) durch \(\ y=2a\ \) stetig ergänzt werden kann.
Nach dem Erfolg seinen Buches zur Differenzialrechnung plant L'Hôpital auch einen Band zur Integralrechnung, gibt die Idee aber auf, als er erfährt, dass Leibniz ein Buch zu diesem Thema vorbereitet. L'Hôpital kann noch vor seinem Tod die Arbeit an einem weiteren Werk abschließen (Traité analytique des sections coniques – Analytische Behandlung von Kegelschnitten), das posthum veröffentlicht wird.
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